Bereits der Einstieg seiner Rede fällt enttäuschend aus. Mit Standardbegrüßungen, wie man sie auf jedem Elternabend zu hören bekommt, hat bisher noch kein Rhetor sein Publikum umgehauen. Doch es besteht noch Hoffnung, denn weiter geht es mit einer Geschichte.
Diesmal leider kein mitreißender Exkurs
Dafür aber eine kleine Anekdote zum Thema „Asymmetrische Demobilisierung by Angela Merkel“. Die Story an sich ist langweilig, für den anschließenden verbalen Angriff auf Merkel jedoch unabdingbar. Die Kanzlerin habe mit ihrer Ausweichstrategie zu jeglichen Stellungnahmen nicht nur systematisch die sinkende Wahlbeteiligung gefördert. Schulz nennt es „einen Anschlag auf die Demokratie“. Er vernetzt Bilder des Terrors, die jedem Bürger aktuell Angst machen mit der Frontfrau Deutschlands und bringt potenzielle CDU-Wähler dazu Merkel mit Lebensgefahr zu assoziieren.
Ein riskantes Unterfangen in Zeiten der AfD. Wenngleich der Angriff gelungen scheint, bewegt sich Schulz auf einem schmalen Grat zu jener Propaganda-Rhetorik, die den Rechtspopulisten immer vorgeworfen wird. Denn historisch betrachtet gilt: Wähler durch Angst zu mobilisieren ist die einzige Strategie, die bleibt, wenn Inhalte fehlen. Hat Schulz das etwa nötig? Dabei redet er doch ausschließlich über einschlägige Themen: Der epochale Wandel mit der Würde des Einzelnen im Mittelpunkt, Digitalisierung und Cyberterrorismus, humanitäre Solidarität, globale Abrüstung, Rente und, selbstverständlich, soziale Gerechtigkeit. Und die rhetorische Verarbeitung kann sich sehen lassen! Von der rhetorischen Frage über Kontraste bis hin zu Ironie ist alles dabei. Wer glaube denn heute noch, dass ein Wechsel unter Merkels Regierung stattfinden kann? Oder: Der Hunger der Einen sei der Profit des Anderen. Und auch konkrete Sicherheit schaffe man nicht mit der Druckerschwärze im Bundesgesetzblatt!
Sogar witzig ist die Rede stellenweise!
Die Lacher sind aber keineswegs ungeplant und spontan. Als Schulz anstelle einer Wasserflasche nur ein Wasserglas zu seiner Rechten gereicht wird, schüttelt er ganz locker aus dem Ärmel: „Wenn Johannes Rau eine Flasche gereicht bekommen hat, sagte er immer Flaschen nach rechts!“ und spielt mit dem amüsanten Zitat auf die Sitzverteilung im Bundestag an – ein gutes Beispiel für einen gezielt gesetzten Reizpunkt innerhalb eines Vortrages, um die Aufmerksamkeit des Publikums neu zu bündeln.
„Wachmacher“ wie dieser werden umso wichtiger, je länger die Rede dauert und Schulz macht das in seinem 80-minütigen Auftritt wirklich gut. Er wechselt von politischem Fachjargon zur Stammtisch-Manier: Ihm gehe nicht nur die Heuchelei der CDU beim Thema Sicherheitslücken auf die Nerven. Auch zum Versöhnungsgipfel zwischen CDU/CSU und Orban hatte er nur Wut und Zynismus übrig: „Ja Donnerwetter, ein Gipfel war es, ein Gipfel der Heuchelei!“
Und doch unterlaufen Martin Schulz immer noch einige Anfängerfehler. Anstatt die CDU konsequent persönlich zu adressieren, ersetzt er den Parteinamen oft durch „man“ und „eine Partei“. Dabei ist die Wirkung einer direkten Ansprache viel stärker und eindeutiger, wie er in einer Antwort auf ein direktes Merkel-Zitat deutlich zeigt: „Die Zeiten, in denen wir uns auf andere verlassen konnten ist ein Stück weit vorbei. Wie groß ist denn das Stück? Wie unkonkret darf es denn bitteschön sein?“ – hervorragend! Das Gleiche hätte er ebenso auf die Wählerschaft anwenden sollen. „Wer Angela Merkel wählt, kriegt am Ende Horst Seehofer!“ Rhetorisch richtig gewesen wäre: „Wenn Sie Angela Merkel wählen, kriegen Sie Horst Seehofer!“ Eine kleine Änderung mit großer Wirkung!
Schulz und die perfekte Pausentechnik
Große Wirkung erzielt Schulz auch mit seiner Pausentechnik, die er perfekt beherrscht, und der stimmlichen Modulation. Sein Tonfall wirkt nicht gestelzt, sondern gleicht dem eines ernstes Zwiegesprächs und erleichtert das Zuhören dadurch immens. Und obgleich sich hier und da ein Versprecher eingeschlichen hat, erweckt er durchweg einen selbstsicheren Eindruck. Er klammert sich weder am Rednerpult fest noch steht er dort wie angewurzelt, ganz im Gegenteil. Seine Gestik ist frei und unterstützt konsequent das, was er sagt, ohne dabei aufgesetzt zu wirken und er nutzt den Spielraum, den er hat, indem er auch mal einen Schritt nach hinten geht oder sogar seine Jacke mitten in der Ansprache auszieht. Verglichen mit der „Merkel-Raute“ ist seine Gestik ein eindeutiges Signal der Überlegenheit.
Bei der Mimik ist noch Luft nach oben!
Die Mimik eines Redners ist allerdings mindestens genauso wichtig und bei Martin Schulz ist da noch viel Luft nach oben. Mehr als ein Stirnrunzeln hier und da hat er nicht drauf. Dabei bieten einige Stellen seiner Rede hervorragende Möglichkeiten, der Dringlichkeit seiner Worte durch den entsprechenden Gesichtsausdruck mehr Bedeutung zu geben: Deutschland sei ein Land, für das die Zukunft keine Drohung, sondern ein Versprechen ist – ein außergewöhnlich schöner und zuversichtlicher Appell, der durch ein Lächeln an Glaubwürdigkeit gewonnen hätte.
Ebenso lässt ihm die Dramaturgie seiner Rede weitaus mehr Raum, um Persönlichkeit zu zeigen, als er es tut. Neutrale Inhalte wechseln sich mit angriffslustigen bis wütenden ab und da sollte ein Redner auch wütend sein, denn eine Rede lebt von Leidenschaft. Insbesondere das Ende einer Rede ist der ideale Zeitpunkt für den wichtigsten Appell an die Zuhörerschaft. Schulz reiht hier ein stilistisches Mittel an das nächste: Kontraste, Parallelismen, Wortwiederholungen, emotionale Bilder über ein System der Hoffnungslosigkeit und des Massensterbens. Und ausgerechnet hier fehlt es ihm an Leidenschaft. Dabei redet er in seinen letzten Sätzen noch über eine Idee Europas, für die es sich lohne, mit heißem Herzen zu kämpfen und für die er Bundeskanzler werden möchte! Da hat er wohl heiß mit lauwarm verwechselt.
Das Leben einer Rede verleiht ihr letztlich nur der Redner selbst
An dieser Stelle sollte man sich den Anlass der Rede noch einmal ins Gedächtnis rufen. Es hätte primär um die Verabschiedung des Parteiprogrammes gehen sollen. Das Konzept war aber offensichtlich ein anderes: Die CDU und Merkel so schlecht aussehen zu lassen, wie möglich. Das hat unter Einsatz von rhetorischen Stilmitteln sehr gut funktioniert. Die eigenen Stärken und Anliegen mit der nötigen Hingabe zu transportieren dagegen weniger. Martin Schulz Auftritt ist aus diesem Grund ein anschauliches Beispiel dafür, dass eine gut geschriebene Rede allein nicht ausreicht. Leben verleiht ihr letztendlich nur der Redner selbst.